Überlegungen zur Angst-Erfahrung in der europäischen Moderne – eine vergleichende Betrachtung mit besonderem Bezug zum erzählerischen Frühwerk von Stanisław Przybyszewski (1868-1927)
Die folgende Betrachtung befasst sich mit dem Phänomen der Angst und deren mannigfaltigem Ausdruck in der europäischen Moderne um 1900. An ausgewählten Beispielen der polnischen, österreichischen, deutschen und französischen Literatur werden Tendenzen und Wege markiert, welche die Auseinandersetzung schließlich mit dem Frühwerk von Stanisław PRZYBYSZEWSKI einer dezidierten einheitlichen Auslegung und Deutung der Folgen entgegengesetzt werden. Damit wird zugleich auf eine ´anders´ vorzunehmende Auffassung hingewiesen, wonach letztlich auch die Kunst der Zeit verlangte.
Einleitung
Zur etymologischen Bestimmung und ihrer Auffassung
Folgt man zunächst den etymologischen Explikationen, so steht die ´Angst´ für ein „´beklemmendes Gefühl des Bedrohtseins, Furcht´“ und „mit dem Zugehörigkeitssufix -st- „ bezeichnend für das, „was mit der Eigenschaft ´eng´ verbunden ist, ´das Engsein, den Zustand der Enge (Beklemmung)´“, im verwandten Altindischen vorkommend áṁhaḥ für ´Angst, Bedrängnis´, im Awestischen ązah- ´Ein- Zusammenschnürung (der Kehle), Bedrängung, Not, Enge, Gefangenschaft´“, im Lateinischen „angustus für ´eng, schmal´, angustia für ´Enge, Beklemmung, Schwierigkeiten´“.1
Das Substantivum ´Furcht´ als ein ´banges Gefühl des Bedrohtseins´“ oder ´f ü r c h t e n´ in der Verbform ´sich ängstigen, besorgt sein´“2, weicht von der o. g. ´Angst´-Umschreibung nicht ab, wird im Folgenden daher mit dieser als gleichbedeutend aufzufassen sein.
Eine solche Palette an der die Angst umschreibenden, ihr innewohnenden oder zugeschriebenen Erfahrung gibt womöglich zu verstehen, was bereits in der biblischen Paradies-Szene seinen ´bangen´ Ur-Anfang genommen haben mag: ein Ur-Ereignis, welches das menschliche Gemüt seither einer über ihn waltenden Macht ausgeliefert hat:
„Und Gott der Herr rief Adam und sprach zu ihm: Wo bist du?
Und er sprach: Ich hörte deine Stimme im Garten und fürchtete mich;
denn ich bin nackt, darum versteckte ich mich.“3
Die Angst vor dem Gegenüber, vor dem das bisher intakte Gleichgewicht nun folgenden gestörten Zustand, den all die genannten Deutungen zu einem unausdrückbaren Gefühl zusammenballen, lassen das Ich einen Moment lang geradezu erstarren. Eine Begegnung wird zur Konfrontation eigener Visionen, Auffassungen von Welt und Ich mit der ´anderen´ Wirklichkeit sowie den eigenen verborgenen Gefühlen, welche die tiefsten Schichten der Psyche berühren.
Dem künstlerischen Ausdruck einer solchen Begegnung in der Dichtung der europäischen Moderne um 1900 wird im Weiteren die vorliegende Betrachtung gewidmet.
Sie wird im ersten Kapitel die Zivilisation-Angst einer näheren Betrachtung an gewählten Beispielen unterziehen, um vor diesem Hintergrund epochaler Umschwünge im zweiten Kapitel die Thematisierung der Todes-Angst, in einer Korrelation zur ´Liebe´ und ´Kunst´ mit einem besonderen Bezug zum hier geradezu exemplarischen Prosawerk von Stanisław PRZYBYSZEWSKI, zu untersuchen.
Ein hieraus resultierendes Bild wird vor die Augen führen, wie eine ganze Schriftstellergeneration, jegliche Grenzen sprengend, das Phänomen der Angst in ihrem Werk literarisch verarbeitete oder sie auf diesem Wege zu bewältigen bemüht war (u. a. RILKES Malte). Da aber auch das Schreiben mitunter diese Aufgabe nicht mehr zu erfüllen drohte, so schien der Künstler in seiner Welt einem Untergang geweiht zu sein, seiner eigenen Machtlosigkeit gewahr. Das wird letztlich auch im letzten betrachteten Werk, PRZYBYSZEWSKIs De profundis, äußerst prägnant zum Ausdruck kommen.
Erst viel später schien der Sinn des ´Wortes´, das die Angst bezwingen sollte, und seiner Botschaft angesichts des menschlichen Schicksals, der Zweifel am Sinn der Welt und der Frage nach deren ´anderen Seite´, ob es sie denn überhaupt gäbe, expliziert werden, des Wortes, das, jegliche Barrieren sprengend, dennoch bestehen kann. Das wird das lyrische Ich in einem vor diesem Hintergrund viel späteren Werk des polnischen Literaturnobelpreisträgers Czesław MIŁOSZS im Gedicht Sinn [Sens] betont ausdrücken:
„Gdyby tak było, to jednak zostanie Słowo raz obudzone przez nietrwałe usta, Które biegnie i biegnie, poseł niestrudzony, Na międzygwiezdne pola, w kołowrót galaktyk I protestuje, woła, krzyczy.”4
1. Zivilisation-Angst
a) Im Bann des Fortschritts: Dans ce siècle de progrès, la machine est un homme perfectionné5
Die rasante technische Entwicklung, die „Erfindungen des auf seinen Fortschritt so stolzen Jahrhunderts“6, riefen bekanntlich nicht alleine eine Begeisterung hervor, wie dies etwa den Berichten aus der Pariser Weltausstellung um 1900 zu entnehmen ist, in der u. im Palais des Câbles die neuesten Erzeugnisse der Kabel-Industrie präsentiert wurden, die jenen Fortschritt in der Telefonie und Telegraphie dokumentierten und so die bis dahin unüberwindbaren Barrieren von Zeit und Raum sprengten: „[J]a, es ist ins Auge gefasst, dass die Entfernung für den Telephonverkehr überhaupt keine Rolle mehr spielen und dass es möglich sein wird, durch die Poulsenschen ´Relais´ die menschliche Stimme um den Erdball herumzusenden“7, hieß es. Auf derselben Ausstellung verzeichnet gleichermaßen die Waffenindustrie eine erschreckende Schnelligkeit in der Modernisierung ihrer Erzeugnisse:
„Auf dem rechten Flügel der Mannlicherausstellung […] macht ein Schrank den Abschluss, der das Allerheiligste des berühmten Waffentechnikers, die von ihm erfundenen Selbstladegewehre in der Stufenfolge ihrer Entwicklung umschliesst. Das Selbstladegewehr ist so eingerichtet, dass der Gasdruck beim Abfeuern des Schusses den Verschlussmechanismus in Bewegung setzt und damit das Oeffnen und gleichzeitige Auswerfen der Patronenhülse, sowie demnächst das Schliessen mit gleichzeitigem Laden des Gewehres aus dem Magazin selbständig bewirkt. […] Dem Schützen verbleibt nur noch das Zielen, das Abfeuern und das Füllen des leer geschossenen Magazins, wie beim Mehrladegewehr.“8
Auf der anderen Seite verdrängt die Automobilindustrie immer entschiedener die noch benutzte alte Droschke, welche im Fahrpreis mit der Straßenbahn immer noch konkurrieren kann. Hinzu kommen immer mehr die komfortablen Automobile ins Spiel wie Spider oder Duc-Tonneau 9, deren Geräusche jedoch das Individuum um die letzten ruhigen Nächte bringen, wie RILKES Malte es mit neurasthenischen Erfahrungen auf den Punkt bringt, indem er sagt:
„Elektrische Bahnen rasen läutend durch meine Stube. Automobile gehen über mich hin.“10
Diese Erfahrungen eines jungen Dänen (sprich RILKEs), der in die Weltmetropole aus der Provinz (dem im Moor ´versunkenen´ RILKEschen Worpswede) gelangt, führen ihn schließlich beinahe an den Rand psychischer Destruktion.
In einem der Kapitel wird er wieder durch die Kindheitserinnerungen eingeholt. Doch nun, angesichts des Molochs Paris und der einsamen Stube, „fünf Treppen hoch“11, gewinnen seine Ängste Oberhand. Das Wort ´Angst´ wird anaphorisch 11 Mal (!) innerhalb eines kurzen Textabschnitts wiederholt und mit dem Schluss subsumiert:
„die Angst, daß ich mich verraten könnte und alles das sagen, wovor ich mich fürchte, und die Angst, daß ich nichts sagen könnte, weil alles unsagbar ist, - und die anderen Ängste…“12
Die Ausweglosigkeit Maltes Lage resultiert aus der Tatsache einer sein Inneres tief erschütternden Wirklichkeit, die er nicht im Stande ist so aufzunehmen, wie sie sich ihm anbietet. Denn sie zersetzt die tiefsten Schichten seiner Psyche, in welchen der ´paradiesische Zustand´ des Davor mit dem jeglicher Metaphysik entbehrenden Stadtbild kollidiert.
Die Angst, dies zuzugeben, bewirkt ein Schweigen, das jedoch fernab von jenem liegt, das noch MAETERLINCK nach CARLYLE im Schatz der Armen pries, und zwar mit Worten, die Malte nicht mehr erreichen und seine ´Wirklichkeit´, seinen vor Paris wohl gewissermaßen intakten ´Weltinnenraum´ , nicht mehr beschreiben können. Denn ein jedes einzelne ´Schweigen´ des jungen Dänen wird zum Ausdruck seiner Not und der Angst, durch Worte diese letzte Brücke mit ihm in die Tiefe herabstürzen zu sehen:
„Das Schweigen und die edlen, schweigsamen Menschen!… Sie sind hier und da verstreut, jeder in seinem Lande, sie denken im Stillen, sie arbeiten im Stillen und die Morgenblätter erzählen nichts davon…“13
Nichts mehr, was MAETERLINCK hier lobpries, kann so hingenommen werden – kein einziger Satz; denn auch das Arbeiten ´im Stillen´ fruchtet nicht bei Malte und sein Denken in einer solchen ´Stille´ kann nur zum Trauma, zu einer „Zusammenschnürung der Kehle“ führen, wie es die Bedeutung der ´Angst´ es letztlich umschreibend charakterisiert. – Denn tatsächlich, sprachlos vor Angst, wird Malte es nicht mehr ausdrücken können, was ihn, sich in ihm bereits eingenistet, innerlich ´bedroht´, ´beklemmt´ und ihn in eine ´Enge´ drängt; auch die Morgenblätter, die bei Malte in einer Abwandlung als Blumen vorkommen, sind nicht schweigsam. Ja, ganz im Gegenteil: Sie spiegeln des jungen in den Tuilerien nach Ruhe suchenden Dänen aufgewühltes Inneres wie kaum etwas anderes, und das in grellen Farben:
„Einzelne Blumen in den langen Beeten standen auf und sagten: Rot, mit einer erschrockenen Stimme.“14
Die ´Angst´, das Gefühl einer ´Bedrängnis´, welche die Metropole und die Menge im Individuum hervorruft, führen in ´grader Linie´ zur äußersten Not des Einzelnen, der sich darin vollkommen verliert, wie etwa der Veitstänzer, den Malte auf dem langen Pariser Boulevard St-Michel traf:
„Ich fühlte, daß ein wenig Angst in mir Anfing.“15
Und mit diesem Gefühl wird dem Kranken gefolgt, ihm, in dessen „Angst vor den Leuten“16, die seine Schwäche merken könnten; notabene versteht Malte seine Angst sehr wohl, wie er es zugibt und sich mit ihm gleichsam identifiziert, da ihm die zügellose, blinde Menge zuwider ist; auch bezeichnet Malte die Angst des Kranken als eine „suchende Angst“17, nach einer Lösung, Täuschung, einem Ausweg aus dem „beklemmenden Gefühl des Bedrohtseins“18 von außen.
Schließlich wird Malte, dessen „Angst dennoch wuchs“19, obwohl der Veitstänzer immer neue Auswege aus der prekären Lage seiner sichtbaren Krankheit zu finden bemüht war, zum Zeugen, wie die Menge den Einzelnen in ihrer würgenden Umarmung schließend verschlingt. Ein Bild, das überaus anschaulich das Individuum als Opfer des ´Wahnsinns´ Zivilisation darstellt:
„Der Stock war fort, er spannte die Arme aus, als ob er auffliegen wollte, und es brach aus ihm aus wie eine Naturkraft und bog ihn vor und riß ihn zurück und ließ ihn nicken und neigen und schleuderte Tanzkraft aus ihm heraus unter die Menge. Denn schon waren viele Leute um ihn, und ich sah ihn nicht mehr.“20
Das Individuum, gänzlich auf sich selbst angewiesen, so auch im Sinne RILKEs Zeitgenossen PRZYBYSZEWSKI21, wird in spannungsvollen Situationen gleichsam zum ´Gefangenen´ der Menge, ihrer Brutalität, ihr preisgegeben, die für die verborgenen Triebe steht, welche einmal entfesselt keinen Halt mehr zu kennen scheinen, wie es etwa Feodor SOLOGUBs (1863-1927) in seiner Erzählung In der Menge (V tolpe [1907]) äußerst prägnant schilderte.
So wird in der Pariser Weltausstellung 1900 eine sog. Plate-forme roulante gleichsam zum Sinnbild des Fortschritts, der vor niemandem Halt macht und für den „die Maschine ein vervollkommneter Mensch“22 ist; doch ihr Antlitz ruft Ängste hervor, die sich mit einer dunklen Begierde mischen, der das Ich unbedacht nachgegeben dem Untergang geweiht ist, einem Fall und Verlorensein, während ringsumher die Menge spöttelt:
„In tiefem Sinnen, von der Begierde getrieben, von der Angst gehindert, steht eine ältere Dame, die die Zeichen der Zeit sorgfältig durch die raffinierteste Kosmetik kachiert, auf dem festen Perron, lange zaudernd, um endlich mit kräftigem Entschluss - leider allzu kräftig - auf die Plattform zu springen. Aber der Sprung war zu energisch, sie fällt halb auf die schneller rotierende Bahn und während ihr Oberkörper mit einer Geschwindigkeit von acht Kilometern in der Stunde die Reise um die Ausstellung anzutreten sich schickt, folgten ihre unteren Extremitäten nur mit einer stündlichen Leistung von vier Kilometern, bis ein Herr, ein menschlich Rühren spürend, sie aus diesem Zwiespalt erlöst, indem er sie aufhebt. Aber während sie schüchtern verwirrt dankt und ihre Toilette zu arrangieren bestrebt ist, trägt die obere Plattform ihren Hut mit einer Geschwindigkeit von acht Kilometern von dannen.“23
Malte, der im Halbschlaf seine Visionen auslebt sowie die gestürzte Dame, leiden an einen „Angsttraum, voll Schreck vor der technischen Herausforderung und dem, was sie ruft.“24 Der in der Menge der Stadt, eingekesselte Mensch fällt ihr zum Opfer. In BAUDELAIREs Kleinen Gedichten in Prosa, in deren Form der im Weiteren erwähnte Jan KASPROWICZ (1860-1926) seine Sammlung O bohaterskim koniu i walącym się domu [Vom heldenhaften Pferde und einstürzenden Haus] schrieb, wird die industrielle Großstadt-Paris geradezu zum Sinnbild der das Individuum vernichtenden Kräfte, einer „sich in der Großstadtexistenz kristallisierenden Lebensangst.“25
In BAUDELAIREs Erzählung Le mauvais vitrier [Der böse Glaser] wird dieser Tatbestand noch einmal bestätigt; übrigens spricht der Erzähler von einem „Lustgefühl der Angst“26, das darin bestehe, wie er über einen Fall berichtet, und damit beispiellos den Tod und die Angst zugleich in einer Linie positioniert, „neben einem Pulverfaß eine Zigarre anzuzünden, um zu sehen, um zu wissen, um das Schicksal zu versuchen, um sich selbst zu einer Katastrophe zu zwingen, um das Spiel zu riskieren […].“27 Der des Lebens überdrüssig gewordene Exzentriker greift, nicht minder wegen der gerade von sich selbst o. g. Gründen, einen armen hausierenden Glaser an, zuerst verbal, dann indem er vom Fenster einen Blumentopf „genau auf den hinteren Rand seiner Trage fallen“28 lässt und so das Zerbrechen des sämtlichen Glases verursacht, was er als einen „übertriebenen Scherz“29 quittiert.
Die Furcht des armen Glasers um seinen Broterwerb in der durch Wahnsinn getriebenen Großstadt, den Tag in der gegebenen ´Wirklichkeit´ schadenlos zu bestehen – das Glas dürfte hier exemplarisch als Sinnbild für die Zerbrechlichkeit einer jeden dem Moloch ausgelieferten Existenz stehen –, endet in einem Desaster, genauso wie die Lebensvorstellung des Erzählers, dessen Abgestumpftheit eine Art Ausflucht vor dem nicht mehr zu bewältigenden Schrecken des modernen Koloss zu sehen ist. In BAUDELAIREs Gedicht Le gouffre [Der Abgrund] wird dieser Schrecken, noch einmal potenziert, zu einer existenziellen Angst-Erfahrung:
„Pascal den Abgrund sah, wo er auch ging und stand.
- Ach! alles bodenlos - die Tat, der Traum, das Wähnen
Und auch das Wort! in des gesträubten Haares Strähnen
Spür ich das Wehn der Furcht, die oft mich übermannt.
Und oben, unten mir die Tiefen allseits gähnen,
Das Schweigen und der Raum, der mich mit Schrecken
[bannt ...
Auf meiner Nächte Grund heißt Gottes weise Hand
Den Traum sich vielgestalt ins Grenzenlose dehnen.
Die Angst vorm Schlaf ist wie die Angst vor einem Loch
Voll wüster Schrecken, ach, wohin wohl führt es noch?
Vor allen Fenstern seh das Ewige ich wallen,
Mein Geist indes, umkreist vom Schwindel jederzeit,
Dem Chaos neidet er die Unempfindlichkeit.
- Ach! niemals will aus Zahl und Seiendem ich fallen!“30
Noch im Jahre 1921 wird Hugo von HOFMANNSTHAL vehement gegen einen „Ersatz für die Träume“ plädieren, wie er das aufkommende Kino nennt. Die Maschine bemächtigt sich des Menschen, seiner Träume, die sie verzerrt. Die schöpferische Phantasie droht in dem durch die Maschinen bestimmten Alltag zur Nervenpsychose zu werden:
„Das ist der Werktag: die Routine des Fabriklebens oder des Handwerks; die paar Handgriffe, immer die gleichen; das gleiche Hämmern oder Schwingen oder Feilen oder Drehen; und zu Hause wieder: der Gaskocher, der eiserne Ofen, die paar Geräte und kleinen Maschinen von denen man abhängt […], dass schließlich der, der sie immer wieder bewältigt, selber zur Maschine wird, ein Werkzeug unter Werkzeugen. Davor flüchten sie zu unzähligen Hunderttausenden in den finsteren Saal mit den beweglichen Bildern. Dass diese Bilder stumm sind ist ein Reiz mehr; sie sind stumm wie Träume. Und im Tiefsten, ohne es zu wissen, fürchten diese Leute die Sprache; sie fürchten in der Sprache das Werkzeug der Gesellschaft… Die eigentümliche fade Leere der Realität, das Wesen, das den süssen, undefinierbaren Schauder der ahnenden Begierde tief in die dunkle Tiefe des Herzens hineinwarf“.31
Und auch hier, wie bei Malte, welcher der Großstadt nicht widerstehen kann, sie, mit all ihren ´Kuriositäten´, für sich zu entdecken sucht, zugleich aber immer wieder daran scheitert, und der Pariser Wirklichkeit der Jahrhundert-Wende der großen Weltausstellung, fließt eine Begierde mit Angst zusammen, um letztlich die „erstickten“, stummen Träume, ´unverbindlich´ vor sich passieren zu lassen, in dem ´finsteren Saal´, dessen Verdunkelung notabene mit der, welche noch für eine phantasiereiche Sphäre in den Theatern um 1900 sorgte, als die WAGNERsche Oper in der Synthese von Licht, Dunkel, Musik und Tanz ein synästhetisches Phänomen heraufbeschwor, nichts Gemeinsames mehr hat. Die ´Angst´ scheint nun auf der Leinwand projiziert die inneren Nöte vorerst zu ´kaschieren´, zumindest solange die ´Séance´ andauert.
Im Jahre 1908, also in der Zeit, als RILKEs Malte im Entstehen begriffen war, und Fedor SOLOGUB 1907 die Gefahren der ungezügelten Triebe der Menge einer erschütternden Analyse unterwarf, setzte sich Eliza ORZESZKOWA (1841-1910) in ihrem Artikel Współczesna cywilizacja [Die gegenwärtige Zivilisation] mit dem raschen Fortschritt äußerst kritisch auseinander, indem sie subsumierend dessen Erfindungen dem Menschen schließlich zum Albtraum, zum Verhängnis werden ließ:
„[…] wymyślone narzędzia i zdobycze, z biegiem czasu łamią się, psują, wykrzywiają, plamią, aż kończy się na tym, że wykłuwają oczy, szarpią dusze i plamami okrywają odzież tego szalonego dziecka, którym jest ludzkość.”32
2. Die Todes-Angst
Es ist geradezu symptomatisch für die Zeit um 1900, den Tod, oft in Verbindung mit der Jahreszeit des Herbstes und der Einsamkeit aber auch der Liebe, wie etwa bei PRZYBYSZEWSKI, vor dem Hintergrund des Niedergangs des Individuums, das an der Oberfläche der Empfindungen verbleibt, künstlerisch zu beschwören.
Ein solches Bild liefert in äußerster Prägung das Prosagedicht Pani Śmierć [Frau Tod] aus Jan KASPROWICZs (1860-1926) Sammlung O bohaterskim koniu i walącym się domu [Vom heldenhaften Pferd und einstürzenden Haus] (1906), die an BAUDELAIREs o. g. Petits Poèmes en Prose (1869) denken lässt. Der Tod, die Angst und der Herbst sowie die Vereinsamung des missverstandenen, wohl ein wenig exzentrischen´ Protagonisten mischen sich in dessen ´Gespräch mit dem Tod´ während eines Spaziergangs selbst zu einem ´bunten´, schaudererregendem Fresko:
„Towarzyszka, przystanąwszy, wyciągnęła ręce nad murawami, nad dalekim sadem czy parkiem, jak gdyby je chciała błogosławić. Wypukle, zielone oczy jeszcze gęstszą oprzędły się mgłą, z piersi wydobyło się westchnienie i zgasło, a właściwie utonęło w okręgach.
Przejął mnie niby dreszcz…
Zauważyła to.
- Daruje Pani, ale dziwne w tej chwili wywierasz na mnie wrażenie. Nie umiem zdać sobie sprawy.
- Po prostu Pan się boisz: jesień działa na ciebie przygnębiająco… Nie lękaj się, jesteś dość jeszcze młody i krzepki.”33
Noch ´exzentrischer´ in seiner Art, in seiner Todesangst aber auch einer geradezu symptomatisch unerfüllten Liebe, sich selber überlassen in den das Individuum (auch nach PRZYBYSZEWSKIs Verständnis34) nach und nach zerstörenden Zuständen, sind die Protagonisten der frühen lyrischen Erzählungen PRZYBYSZEWSKIs, die exemplarisch ausgewählt im Folgenden betrachtet werden. So in der Himmelfahrt (1894), in der die Trennung von einer Frau zu einer Art psychisch-destruktiver Kette von scheinbaren Bewusstseinsspaltungen wird:
„In dem zwölfköpfigen Gehirn konnte es keinen Frieden, keine Ruhe, kein Glück geben, nur Streit, nur Angst, nur Qual und Elend.“35
Tiefe innere Kämpfe mit sich selbst führen den Protagonisten an den Rand der Ohnmacht: „[S]eine Seele eiterte, er gehörte sich nicht mehr.“36 Der Verlust der Liebsten, die ihrerseits an einen früheren Geliebten denkt und ihn in den jetzigen Partner hineinprojiziert, führt wiederum zum Verlust der Bewusstseinsgrenze, die er verlassend, sich selber in dem zerstörerischen Zustand zu vernehmen meint: „[U]nd in unerhörter Todesangst hörte er sich schreien: Wo bist du, Du? –“37 Letztlich scheint er „mit blutunterlaufenen Augen und wildem Blick, mit froh jauchzendem Munde“38, gerade noch in seinem Delirium zu obsiegen.
Ähnlich ergeht es dem Protagonisten der kurzen Erzählung Notturno (1895), die, trotz ihrer ganzen schwärmerisch-schmerzvollen Gedämpftheit, doch nicht minder explosiver ist als die Himmelfahrt. Auch hier wird ein Liebesbruch zum bitteren inneren Kampf des Einsamen mit sich selbst um eine verloren gegangene Hoffnung auf eine mögliche Wiedergutmachung. In der ganzen Kraft, die er sich zuzuschreiben versucht, wird der Protagonist dennoch durch die Angst überwältigt, immer wieder: „Da wurde Angst in ihm. Und ein jäher Schreck steifte seinen Körper, daß er sich festhalten mußte, um nicht rücklings zu fallen.“39 Es war die Angst, von der ´Flucht´ heimzukehren und die Angst, ihr in die Augen zu schauen, die ihn betrug; es war „die Qual und die Angst…“40 vor dem Alleinsein, worin er sich am Meeresufer gerade noch so stark fühlte, denn „er stand über dem Schmerze“41, zumindest solange er die Heimschwelle nicht betrat, da nun über ihn der Augenblick kam, „als müßte alles in ihm auseinanderreißen“.42
Die Erzählung In hac lacrymarum valle (1896), deren Satzmelodie einem üppigen Jugendstilornament gleicht, handelt, wie die beiden anderen Erzählungen auch, vom Liebesglück, das den Protagonisten hier jedoch, geradezu überwältigend, an der künstlerischen Arbeit hindert. Als Prüfstein der Liebe soll nun der Schmuck der Geliebten sein, auch ihr Erbstück darin, eine Brillantnadel. Hin und her gerissen wird nun der Protagonist in seinen Gedanken, sie dennoch womöglich auf die Probe zu stellen. Die Angst zersetzt ihn geradezu. Es ist eine „tiefe, ahnende Angst“43, sie könnte die Probe nicht bestehen; es entsteht in ihm „eine Pein, gemischt aus Angst und zweifelndem Hohn“44, die ihn fiebern lässt. Schließlich wird der Schmuck bei ihm, einem überempfindlichen Künstler, zum Auslöser eines Delirium ähnlichen Zustands und einer „Todesangst“45:
„[S]ein Körper zerfleischte sich an den scharfen Kanten des Edelgesteins, sein Blut gerann auf dem kostbaren Metall und wurde zu fressendem Gift, die Sonne erhitzte den Boden, der keine Erde und kein Wasser kannte, zu einem höllischen Backofen.“46
Auf diesen Zustand folgt eine vollkommene Apathie, deren Ergebnis das (vorläufige) Entsagen der Liebe zugunsten der künstlerischen Tätigkeit wird.
Diese Tätigkeit, als „Enträtselung der letzten Daseinsgründe in der Verschmelzung zweier Wesen in einem kosmischen Ich-Du“47, war übrigens bereits in der ´Programmatik´ der Vigilien (1895), die im Weiteren betrachtet werden, als „Androgyne“48 ausgedrückt (wie dort so auch hier wird die Geliebte zum ´reinen Kunstobjekt´ erhoben, in dem sich dieselbe, als Kunst, letztlich verwirklicht49 und so, sich mit ihm abermals vereint, zum Ausdruck und zum „Samengolf […] des Willens nach persönlicher Unsterblichkeit“50. Damit wird die erwünschte ewige Vereinigung von ihr und ihm im Kunstobjekt letztlich realisiert.), sollte den Grundstein PRZYBYSZEWSKIs Poetologie bilden und damit, so der Autor, „der Schlüssel nicht nur zu meinen Dichtungen, sondern zu meinem gesamten Werk“51 sein.
Auch in den Erzählungen Totenmesse, Vigilien, Sonnenopfer, Am Meer, Androgyne sowie De profundis, die allesamt übrigens davon erzählen, was PRZYBYSZEWSKI in Pro domo mea zwar auf De profundis bezieht, nämlich, „daß es noch etwas Anderes gebe außer dem dummen Gehirn“52, wird die Angst zu einer sie kennzeichnenden Dominante.
In der Totenmesse (1893), in welcher „die jüngste Evolutionsphase des menschlichen Gehirnes zu untersuchen“53 ´beabsichtigt wird´, wird zunächst jedoch das Ich über die gemeine Künstlerseele und das Volk in einer Selbsterhöhung gepriesen. In einer „übermenschlichen Halluzinationskraft“54 wird ein Kampf zwischen Gehirn und Geschlecht ausgetragen.
In einer ´Agonie der Angst´55 gerät der Protagonist „in ein Stadium physiologischen Hellsehens“56, worauf abermals, quasi rückblendend, die wohl wahre Ursache des ´Zustands´ gesucht werden soll, zumindest jedoch nicht minder bedeutende als das später erwähnte Kindheitsereignis; nun ist es die Trennung von der Geliebten, die jedoch allenfalls zu einem Experimentobjekt von Traumuntersuchungen herabgestuft wurde.
Was darauf folgt, ist der eigentliche Keim des ´Hirn-Brandes´, des metaphysischen ´Geschwürs´, das zum monströsen ´Visons-Geglüh´ führt – schließlich zur ´simplen´ Angst vor der nicht zu bewältigenden Einsamkeit: „Ich empfand Angst, unerhörte Angst; ich fuhr auf, sie zu suchen.“57 Doch wächst die Furcht ununterbrochen nach der Trennung: „Nur eine steigende Angst, gemischt mit einer orgiastischen, qualvoll bangen Brunst nach ihr, wollte mir die Brust zersprengen.“58
Danach kommt nur noch „die Agonie der Todesangst“59, der letzte Kampf des Sich-im-Klaren-Werden über eigene verzweifelte Lage und das Gefühl, „daß ich mit etwas zu Ende kommen, etwas zu Ende denken müsse, wovor ich entsetzliche Angst hatte.“60 Das Liegen auf dem Bett eines an Glaubensverlust Leidenden versetzt ihn in Zustände, die zwischen Suizid-Halluzinationen und Bindungs-Notwendigkeit oszillieren. Noch ergreift er „in Todesangst mit beiden Händen den Bettrand“61, um danach abermals vor der ganzen ´Maschinerie´ zu erzittern: „Kalter Schweiß trat mir auf die Stirn; das Gefühl, mich wieder dieser Qual ergeben zu müssen, fraß mit steigender Angst an meinem Hirn.“62
Doch am Ende scheint die allgegenwärtige Angst überwunden zu sein; noch ein kurzer Rückblick in die Kindheit wird gewagt, wo die Ängste zu keimen schienen, als die Epidemie durch das Dorf zog und in der Kirche in langen Gebeten Gott um Erbarmung angefleht wurde: „[D]as Volk schrie, schrie unaufhörlich in der schauerlichen Agonie der Todesangst nach Gott.“63 Die rückschreitende Metamorphose, die nun beginnt, dürfte womöglich eine Hoffnung verheißen, wohl nach einer Art psychotherapeutischen Auto-Séance.
Ähnlich den vorangehenden Erzählungen vereinen sich im Weiteren in den Vigilien die Kindheitserinnerungen mit der Liebes- und Todesproblematik. Wie in der Totenmesse eine Epidemie die tiefsten Todesängste des Knaben hervorrief, so tut es hier nicht minder der Brauch der Allerseelen, der immer wieder mit der heimatlichen Erde verbunden, als Rückblende aufgewickelt, die gegenwärtigen Ängste gewissermaßen absorbiert. Auch hier wie da sind der Schmerz und die Qual der Weg zur tieferen Erkenntnis („ich will mich quälen“64). Der Ehebruch wird zum weiteren tiefgreifenden Impuls. Die ganze Erzählung scheint geradezu ein einziger Ausdruck einer erheblichen Angsterfahrung zu sein, und das in vielfacher Hinsicht:
Es ist die Angst des Künstlers, gerissen zwischen Leiblichkeit und Geist, zwischen ´Gehirn´ einer „in Raum und Zeit begrenzte[n] Persönlichkeit“65, die er als solche zu bestreiten bemüht ist, und einer Ur-Idee bzw. „einer nackten Individualität“66, die sich jedoch im ´Weib´, in den „Urbildern“67 als Anfang im Sinne einer androgynischen Ur-Vereinigung expliziert. Damit schließt sich allerdings den Kreis, der ins Geschlechtliche immer wieder zu münden droht.
Ein solcher ´Hintergrund´ eigener Zerrissenheit, noch mit der Sehnsucht nach der heimatlichen Erde gekoppelt, verursacht eine weitere Krise, die sich in der Unmöglichkeit zu arbeiten ausdrückt. – Damit schließt sich die Erzählung der Krisenerfahrung der Zeit an, die mit HOFMANNSTHALs Brief des Philipp Lord Chandos an Francis Bacon (1902) und RILKEs Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910) zum Ausdruck kamen. Wie Malte kann auch PRZYBYSZEWSKIs Protagonist nicht arbeiten. Die Angst zerrt an ihm. Er verlischt wie ein Kerzenlicht, scheint, sofern keine ´Wendung´ eintritt, an der tiefen inneren Krise, die als Spiegelbild der rasanten Industriewelt fungiert, allmählich zugrunde zu gehen:
„Und ich sitze und brüte“68 (Vigilien)
„Es ist lächerlich. Ich sitze hier in meiner kleinen Stube,
ich, Brigge, der achtundzwanzig Jahre alt geworden ist
und von dem niemand weiß. Ich sitze hier und bin nichts.“69
(Malte)
und dann:
„Heute versuchte ich zu arbeiten. (Vigilien)
Es geht nicht!“70
und Malte:
„ICH glaube, ich müßte anfangen, etwas zu arbeiten, jetzt, da ich sehen lerne. Ich bin achtundzwanzig, und es ist so gut wie nichts geschehen.“71
(Malte)
Die immense künstlerische Verpflichtung, berufen zu sein, um jene „schweigenden Geheimnisse“72 auf sich zu nehmen, scheint angesichts der Wirklichkeit das Individuum geradezu in einer kein Ende zu nehmen wollenden Angst zu zermalmen, fern der Heimat, der Liebe. – Auch hier tauchen Parallelen zu Malte auf; der Protagonist verfällt immer wieder in Zustände, die ihn gleichsam in eine Starre treiben:
„Ja, mir graut vor diesen schweigenden Geheimnissen, Angst steigt in mir auf, zittert, wühlt in allen meinen Fibern; jeder Grashalm, der sich zu mir neigt, wird mir zur Angst, das Säuseln des Windes, die ganze Welt ist mir zur Angst geworden.“73
Die künstlerische Aufgabe ist jedoch, was auch immer sich die Figur einzureden scheint, für sie nur in Anknüpfung ans Diesseitige möglich; eine vollkommene Loslösung ist unmöglich. Und je mehr dies dem Protagonisten bewusst wird, umso tiefer wird seine Krise und umso rasanter schreitet die zerstörerische Selbstvernichtung. Und so nimmt die Kunst die Aufgabe auf, die projizierten Ängste in einem kreativ-´befreienden´ Akt zu bewältigen und zu überwinden: „Du meine große, heilige Kunst! […] Du in Mir bist der Anfang einer neuen Welt.“74 – bekennt zuletzt PRZYBYSZEWSKIs Protagonist.
„Der Anfang einer neuen Welt“ schien in der Erzählung Sonnenopfer (1897) auch mit der Geliebten aus „dem Lande ewiger Schatten“75 zu sein, die dem Sonnenkönig von seinem Heer gebracht wurde; ein Glück, das leider aber nicht lange währt. Mit der Aufnahme der seltsamen, lichtscheuen Frau wird zugleich ein in zweierlei Hinsicht verhängnisvoller Umstand geboren, der von einer beinahe ständigen Angst, ob unterschwellig oder später auch explizit zum Ausdruck gebracht, begleitet wird.
Zum einen ist es die Furcht, die Geliebte zu verlieren, der, da sie die Sonne nicht verträgt, ein künstliches Licht hergebracht werden muss, und zwar in Form von erlesenen Edelsteinen; zum anderen ist es die Furcht des Sonnenkönigs, selbst am fehlenden Licht langsam zu erlöschen.
Wie sich zuletzt herausstellt, kann ein solcher Zustand kein Glück versprechen, was auch immer sich der König einzureden versucht:
„Endlose Stunden saß ich bei Dir. Weiße Nebel sah ich um mich kreisen, rote Blitze schossen um mich herum; Angst und Verzweiflung grub mit mageren Gespensterhänden tiefe Gänge in mein Herz - aber ich war glücklich.“76
Doch verlangt das rebellierende Volk bald nach einem Opfer, um die Sonne gut zu stimmen, nach der Geliebten. Diese wird, „in angstflackernden Todesschauern“77, wie der Sonnenkönig zuletzt in Gedanken verloren sinnt, am Kreuz sterben müssen, während sich der Sonnenkönig selbst in seine Gemächer zurückzieht und sich nach dem fernen Schatten-Lande sehnt.
Diese Parabelgeschichte, die das Los des Künstlers spiegelt, welcher seine Berufung gefunden, sich letztlich jedoch unter der Last der erbarmungslosen Wirklichkeit und des ´gemeinen Volkes´ beugt und seinen Lebensinhalt verliert, knüpft in gewissem Sinne an die vorangehenden Erzählungen an, insofern sie im ´Weibe´, das mit seinem Ureigensten gleichgesetzt wird78, den Sinn des Daseins, den „Uranfang“79, wie es in der Erzählung Am Meer (1899) heißt, beschwört.
Nur eine vollkommene Identifizierung mit dem ´Gegenstand´ seiner Liebe kann eine Erlösung, eine Rettung bedeuten. Das will im Sonnenopfer geschehen und das tritt auch in Am Meer zum Vorschein, als das ´Weib´ im Meer verschwindet, das es aufnimmt und so besänftigt wird – eine Rückkehr oder ein Opfer wird damit zugleich vollbracht.
Was blieb, war jedoch die Angst vor Alleinsein, eine Sehnsucht nach Erfüllung. Dieser unerträgliche Zustand, der einem „Flügelschlag eines Vogels im Todeskampf“80 ähnelt, kann nicht mehr ertragen werden; so fängt der Protagonist letztlich an, ein Maximum einer inneren Spannung erreicht, „zu pfeifen, schreien, lachen, um die Angst zu betäuben, aber immer stärker fühlte [er] es um [s]ein Gesicht und gegen [s]ein Gesicht klopfen.“81 Darin entlädt sich die innere Anspannung. Schließlich wird das ´Weib´ zum Meer, wie der Protagonist es letztlich selber auch, der „Sohn des Meeres“.81Dieses verwandelt sich zu einem Tier und hebt von der Erde ab, den Sohn des Meeres mitgenommen. Damit wird eine scheinbar vollkommene Vereinigung der beiden Geliebten letzten Endes vollzogen oder, anders formuliert, die Kunst hebt sich samt Künstler vom Alltäglichen ab, gewährt demselben einen Raum außerhalb des Fassbaren.
Den Kern des frühen Werkes PRZYBYSZEWSKIs bildet jedoch seine Erzählung Androgyne (1906). Bereits zu Anfang stürzt sich der Protagonist, abermals ein Künstler, in ´künstliche Welten´ seiner überschwänglichen, von Blumenduft und Gräber-Landschaften beherrschten Phantasie; darin „naht schon [d]ie Stunde des Mitternachtsgrauens […], voll von schreckender Angst und Pein.“83 Visionen bauen auf Visionen jugendstilartiger üppiger sich schlängelnder morbider Formen, „ohne Ende, ohne Maß …“84 und all dies, um eines ihm hingereichten Blumenstraußes wegen (!). Er, ähnlich wie im Sonnenopfer, wird in seinen Phantasien, seinen „kranken Träumen“85, zum König, dem ein Mädchen hergebracht wird, vor dessen Anblick er „wie in Todesangst“86 erzittern muss, zu einem dunkle Mächte beschwörenden Magier, zu einem durch die nächtliche Stadt irrenden, verhängnisvoll Verliebten.
In seinen ihn an den Abgrund treibenden Visionen erzittert er angesichts der Wollust und des von ihm vollends ergreifenden Besitz blutigen Irrsinns, worin er sich verliert und in die Wirklichkeit zurückzukehren sich fürchtet : „Er hatte Angst seine Augen aufzumachen – er fürchtete, es sei wieder ein Traum“.87 Und in den Träumen lebt er mehr denn in Wirklichkeit, die keine mehr ist, die durch eine ständige Angst getränkt wird, sie zu verlieren, ihre Umarmung, die er „nie gekostet“88 hat; es ist eine „flehende Angst“89, in der er ihr schließlich begegnet; sie lässt ihn beinahe seine Sinne verlieren und teilt sich gleichermaßen auch derselben mit: „ – Ich habe Angst! flüsterte sie leise.“90
Dann erfolgt eine jähe Trennung, während der er sich zugleich nach ihr sehnt und „sinnlose Angst [hat], sie wiederzusehen.“91 In langen Nächten quälte er sich wieder und „mit unsagbarer Angst starrte […] in die tiefste Nacht der Vorstadt.“92 Dann kommt sein Auftritt, in dem er abermals in Träumerei verfällt, sowie nacheinander dunkle Visionen einer Stadt, „die ihm nur Schreck und Angst einjagte“93, einer Totenstadt, deren Gestalt BÖCKLINs Toteninsel (1880) ähnelt und eines flammenden Meeres. Die Erzählung, die sich als eine Art „rasende[s] Tedeum Farbenorgiasmus“94 bezeichnen ließe, ist für das Verständnis PRZYBYSZEWSKIs Androgyne-Poetik unerlässlich, durchzieht sie doch sein ganzes Werk, über Dramen bis hin zu späten Schriften über den Tod, in welchen immer wieder eine Wieder-Vereinigung des gespaltenen Geschlechts unter manchmal erlahmender Todesangst, die hier den Protagonisten nicht loslässt und schließlich auch in einen möglichen Suizid treibt („Komm Geliebter, komm“ […] Ich gehe, ich komme!“95), beschworen wird.
Abschließend sei, wie oben angekündigt, PRZYBYSZEWSKIs frühe Erzählung De profundis (1895) in Betracht gezogen. Auch hier scheint, wie in RILKEs Malte, der Protagonist an Sehnsucht zu leiden. Dort, in einer Auseinandersetzung mit der Kindheit, aber auch in Gefühlen nach Abelone, hier nach der Frau, die er immer wieder verlässt, worauf er in fieberhafte Zustände verfällt: „Sein Herz lief, eine rasende Angst bäumte sich steil in ihm hoch.“96 – Beiden wird der Angstzustand zum Verhängnis ihrer Tage in der Fremde, der unnahbaren gesichtslosen Stadt: „Die Angst wühlte sich tiefer und banger in sein Blut: er begann zu laufen.“97 Aber es ist nicht nur die Angst der ihn umklammernden Stadt, es ist auch diejenige seiner fieberkranken Gedanken einer inzestuösen Liebe zu seiner Schwester Agaj. Die Angst umklammert ihn, wohin er sich auch immer begibt: „– Geh´ nicht so schnell. Ich habe eine entsetzliche Angst…“98, sagt er einem auf der Straße getroffenen Mädchen, einem ´Agaj-Ersatz´.
Zwischen Wollust, Angst und Pein hin und her gerissen scheint er zu fiebern, die Wirklichkeit vom Traum nicht mehr zu unterscheiden, in den Liebesumarmungen der Agaj, sollte es welche je doch gegeben haben: „Seine Seele löste sich qualvoll in wachsender Angst. War sie es selbst? War es nur eine Vision?“99 Und in diesen Zuständen ist ihm immer wieder bange vor Verrücktsein. Jedes Gespräch mit Agaj versetzt ihm Stiche in seinen Leib: „Ich habe eine entsetzliche Angst um mein Gehirn“100, stellt er gegenüber Agaj fest, die ihn buchstäblich um die letzten Sinne bringt. Aber auch sie ist nicht frei von Ängsten: „[I]hre Seele verblutete in Angst und Verzweiflungsschmerz.“101
Mit seiner Rückkehr in die Wohnung scheint sich alles zu legen. Und doch ist es anders als gedacht. Auch da findet er keine Ruhe: „Eine dumpfe tierische Angst wirbelte in ihm auf“102, umzingelte ihn und presste ihn zusammen mit den auf ihn stürzenden Wänden seiner Fieberphantasie: Es folgen Gespräche mit Agaj und Liebesnächte mit einem anderen Mädchen, dessen Gegenwart den inzestuösen Liebestaumel gleichsam betäuben soll. Und doch wuchert der Wahnsinn über das Maß seiner Vernunft und die sogenannten „Freuden des Werktags“103, welche die Menge übertölpelt, die er paradoxerweise leugnet, über ihn hinaus. Einen Augenblick lang scheint er seine Ängste losgeworden zu sein, ja, „er hatte keine Angst mehr.“104 – Dann kommt der Fensterstürz.
Dass PRZYBYSZEWSKI seinen Gestalten stets nur einen Weg ihrer Erlösung übrig lässt, kennzeichnet sein Œuvre par excellance; das wird auch in seinen Dramen, auch des Spätwerks, nicht anders sein. Die Protagonisten leiden an Ängsten und Komplikationen ihrer gemarterten Seelen und ziehen in den Bann ihrer Ängste die letztlich nicht minder gequälten ´Objekte´ ihres Verlangens mit hinein. Die keimende Angst wird in den schwierigsten Stunden zur Todesangst, welche zuweilen aus den geradezu traumatischen Kindheitserinnerungen erwächst. Das Leben nicht in der Gestalt aufgenommen zu haben, wie sie sich jedem anderen ´klar´ anbietet, führt stets zum Scheitern an der Realität. Ein Sich-Einschließen in abgelegene Regionen der Phantasien mag fürs Erste die Furcht bewältigt haben, doch, wie dem letzten oben analysierten Text zu entnehmen ist, mündet dies letztlich in einen Suizid, der bei PRZYBYSZEWSKI nie explizit zur Darstellung kommt, was übrigens dem Wesen seiner Poetik durchaus gerecht wird.
Schlussbetrachtungen
Die in die industrielle Epoche hineingeschriebenen Werke, welche der vorliegenden Betrachtung exemplarisch zu Grunde gelegt wurden, führen vor Augen, wie die ´Entzückung´ über den ´Fortschritt´ jene im selben Moment gleichsam in ein Gefühl der Ohnmacht (etwa die Schilderung des Ereignisses auf der Plate-forme roulante) umwandeln lässt. Ein besonderes ´Gespür´ für die feinsten Nuancen, die sich dem Horchen auf die Zeit-Zeichen gesellten, führten zur Ausprägung einer Sprache, die alles nur leicht Deutbare in Evokationen seelischer Zustände münden ließ, die, wie etwa bei PRZYBYSZEWSKI, eine geradezu rokokohafte Üppigkeit mit der dekadenten Morbidität zu einem scheinbar Ganzen zusammenfügt, das diese Ganzheit zugleich zersplittern lässt. Dies erlaubt, mehr denn jegliche Explikationen, zu erkennen, welche Folgen für das Individuum die Umwandlungen letzten Endes auch genommen haben sollten. So wirkte der Fortschritt geradezu unerwartet Sinn- bildend aus einer Fügung gegensätzlich wirkenden Kräfte vom Zahnrad einer rücksichtslosen Maschine und einem Feingefühl des Künstlers. Nur schwer ließ sich allerdings, und nicht allzu lange, jener Sinn in einer dauerhaft nachvollziehbaren Selbsterkenntnis aufrechterhalten. Der Übermaß an der Erkenntnis kann sich durchaus als irreversibel zerstörerisch erweisen, soll er auf sich vollends genommen werden. Eine Überwindung der Angst, wie sie zuletzt in De profundis verkündet werden soll, entlädt schließlich die explosive Ladung aus den tiefsten Innervierungen des Individuums. Das erlösende Ende wird damit letztlich ein hinausgeschobener Schritt, der die Überspannung fallen lässt. Alles was danach kommt, ist reine Spekulation – und dennoch ganz und gar im Sinne der Kunstschaffenden der Zeit, denen auch die Angst-Erfahrung ein Grund genug war, gegen die Zeit-Zeichen aufzubegehren.
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